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Der Kunstlift und die Agentur für Identität

Die Agentur für Identität ist ein polymorphes Kunstprojekt mit vielen Gesichtern. Kunst wird hier in einem umfassenden Sinne verstanden und praktiziert. Nicht das Werk steht im Vordergrund, sondern die Aktion, der Prozess und die Kommunikation. A.F.I. verlässt die Gefilde der klassischen Kunstproduktion und interveniert ins Soziale und Politische. A.F.I. setzt verschiedene Aufteilungen des Sinnlichen miteinander in Bezug – was laut dem französischen Philosophen Jacques Rancière die Voraussetzung für das Politische darstellt. Die ´autonome` Kunstproduktion trifft auf die Notwendigkeit der finanziellen Lebenssicherung; das Kunstwerk wird zur kommunikativen Handlung mit unterschiedlichen Gruppen. A.F.I. ist eine Schnittstelle, in der durch das Aufeinandertreffen von unterschiedlichen Feldern und ihrer Erwartungen permanent Spannungen entstehen und ausgehalten werden müssen.

Die Künstlerin Sabine Kullenberg, A.F.I.Gründerin, versteht sich als Seismograph für gesellschaftliche und soziale Erschütterungen und macht diese zum Motor ihrer Produktion. Kunst ist für sie ein Mittel, Bewusstseinsarbeit anzuregen. In verschiedenen Formaten wird die Auseinandersetzung mit dem eigenen Selbstbild ebenso forciert wie die Verhandlung gesellschaftlicher Themen wie bspw. Überwachung und ´Recht auf Stadt`. Dieses Thema greift Kullenberg zum Beispiel mit den ´emotional maps` auf. Es sind Zeichnungen, die Karten von Orten, Plätzen, Straßenzügen zeigen, die für den Zeichner eine emotionale Bedeutung haben oder hatten. Die kleinen Pläne werden anschließend auf dunkle Kleidungsstücke gedruckt oder gestickt. Es entsteht nicht nur ein individuelles Kleidungsstück, sondern auch eine Bekenntnis zum ´Recht auf Stadt`, denn Kullenberg hat festgestellt, dass von den Beteiligten häufig Orte ausgewählt werden, die im Verschwinden begriffen sind. Die Karten sind damit gleichsam persönliche Erinnerungskarte und ein Zeichen gegen Gentrifizierung.

Kullenberg knüpft damit an einen Künstler wie Joseph Beuys an, der Kunst ebenfalls in einem umfassenden Sinne verstanden und seine künstlerische Arbeit um gesellschaftspolitische Aktivitäten und Anliegen erweitert hat. Der Bezug zu Beuys ist abstrakt und sehr konkret zugleich. Auch Beuys hat in einer Aktion Kleidung mit politischen Botschaften verknüpft. Im Centre Pompidou in Paris präsentierte Joseph Beuys eine Jeanshose, die mit Löchern in Höhe der Knie versehen waren. Diese bezeichnete er als “the trousers of the 21th century” und verkündete: “Everybody in the world should make these trousers to themselves, to struggle against world-wide materialism and repression especially on the young.” Beuys prangert hier die Unterdrückung der Jugend ebenso an wie die Dominanz des Materialismus. Kullenberg greift diesen Protest in Form von Mode auf und macht ihn zum Gegenstand ihrer interaktiven Kleiderschauen. Ähnlich wie Beuys versteht sie ihre Arbeit als Lebenskunstwerk, als enge Verzahnung von Kunst und Leben. Ihre künstlerische Arbeit endet nicht in einem Kunstwerk, sondern versteht sich als ´soziale Plastik`. Sie ist Konzept ebenso wie konkrete Bewusstseinsarbeit und Überlebensstrategie.

Denn ein Kernstück der Arbeit von A.F.I. sind die Angebote zur künstlerischen Identitäts-Versicherung – möglich für Einzelne, Paare, Teams, Firmen, Organisationen, Orte (Straßen, Stadtteile, Parks, Inselabschnitte, usw.). A.F.I. stellt mit diesem Konzept (Veränderungs-) Potenzial für eine gesellschaftliche Identität zur Verfügung – denn Kunst ist vor allem Nicht-(monetär)Verwertbares, scheinbar Sinnloses, Sinnliches und Sperriges, und auch Kommunikation, die den Mut zur Veränderung einschließt. So bietet die Versicherung, spielerisch und doch ernst gemeint, gegen einen monatlichen Beitrag diverse künstlerische Angebote und Leistungen. Zum einen wird so auf die wichtige, identitätsbildende Rolle von Kulturschaffenden für die Gesellschaft aufmerksam gemacht und zum anderen für die Existenzsicherung von Künstlern/Kulturschaffenden gesorgt (monatliche Beiträge).

A.F.I. ist also auch der Versuch, Gelder zu akquirieren, ohne den Weg über den Kunstmarkt zu gehen. Die künstlerischen Aktionen – wie Identitätsarbeit von Orten – sind von konkretem Nutzen für die Beteiligten – in einem ideellen aber auch sehr praktischen Sinn. Kullenberg verknüpft mit A.F.I. das Kunstfeld mit dem Versicherungsmarkt. Das Ergebnis ist nicht selten konfrontativ. Gleichzeitig entspricht die hier praktizierte Grenzüberschreitung dem Grundmotiv der Avantgarden, die das Gewohnte stören und zum Andersdenken anregen.

Weiteres prägnantes Beispiel für ihre interdisziplinären Tätigkeiten sind die ´Kunstilfte`, die einmal im Monat in der Stresemannstr. 100 stattfinden. Für einige Stunden wird der Fahrstuhl zum Ausstellungsraum. Der räumlich begrenzte Lift wird temporär zu einem Kommunikationsnadelöhr für beteiligte KünstlerInnen, BesucherInnen und NachbarInnen. Oftmals sind andere Kulturschaffende zu Gast und es entstehen Ausstellungen, Installationen oder Gesamtkonzepte für den Lift mit verschiedensten Mitteln/Medien. Und auch hier geht es häufig um gesellschaftspolitische Themen. Für einen Kunstlift hat Kullenberg mit der ´Bank of burning money` zusammengearbeitet und echtes Geld verbrannt. Dieser radikale Schritt ruft fast körperliche Reaktionen hervor, wenn immer wieder der Impuls hochkommt, das Geld im letzten Moment zu retten und für ´sinnvolle Dinge` zu verwenden.

Gleichzeitig wird mit dieser Aktion die Bedeutung und Kraft des Geldes noch einmal in Reinform vorgeführt. Sie ist ein gutes Beispiel für ein Grundmotiv in der Arbeit von Kullenberg: Vorhandenes Material wird angeeignet und entfremdet, um den Blick zu sensibilisieren und umzulenken. Durch die Umwertung von vertrauten Gegenständen oder liebgewordenen Verhaltensweisen werden neue Perspektiven eröffnet. Dabei reichen schon scheinbar kleine Interventionen aus, um z.B. im Wohlerspark, einem AFI-Projekt, den Blick umzulenken und zu irritieren. Kleine blaue Wunschpunkte – dem Sams entnommen – markieren Wege, Stellen oder Personen. Sie verschwinden, wenn man sich etwas wünscht.

Gleichwohl ist die von A.F.I. angebotene Identitätsarbeit kein Wunschkonzert. Es geht um Bewusstseinsarbeit als Erfahrbarmachung der Heterogenität und Brüchigkeit der eigenen Identität. Dabei spielt das Recht auf Individualität im marktkonformen Einheitsbrei eine ebenso große Rolle wie der spielerische Umgang mit Inszenierungen. Wie die Bewusstseinsarbeit konkret aussieht, lässt sich in den so genannten Parcours erfahren. Hier müssen zur Identitätserkundung mehrere Stationen durchschritten werden. Für die Teilnehmer folgt auf die äußere die energetische Reinigung. Danach beginnt ein ´emotional mapping`. Fragen zum Umgang mit dem eigenen Körper werden ebenso aufgeworfen wie zu gesellschaftlichen Fragestellungen. Hier zeigt sich: die Agentur für Identität ist nicht nur Konzept, sondern praktizierte Identitätsarbeit.

A.F.I. ist ein Langzeitkunstprojekt, in dem es um den kontroversen Austausch und um die Unterbrechung des Gewohnten geht. Es ist individuelles Projekt und Gemeinschaftsarbeit. Es ist ernsthaft und spielerisch zugleich und seine unterschiedlichen Formen und Formate machen es zu einem vielschichtigen Kunstwerk, das beständig die Form ändert. Durch das Zusammenbringen unterschiedlicher Felder, ihrer Normen und Ansprüche, eröffnet A.F.I. einen spannungsgeladenen Grenzraum, dem es gelingt diese Unterschiede sichtbar und verhandelbar zu machen. Mit dem Konstrukt Versicherungsagentur macht sich Kullenberg auf, unsicheres Neuland zu betreten und gibt der kontroversen Diskussion um die Bedeutung der Kulturschaffenden und ihrer Existenzsicherung neuen Antrieb.